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Tödliche Berichte: Journalisten im Drogenkrieg

Medienvertreter leben gefährlich in Mexiko, allein für das Jahr 2012 zählt die Menschenrechtsorganisation “Article 19″ mehr als 200 Aggressionen, 20 Prozent mehr als im Vorjahr. Hilfe vom Staat bleibt aus, die Straflosigkeit ist hoch – und oft sind staatliche Sicherheitskräfte die Aggressoren.

Mexiko-Stadt - Armando Rodríguez galt als Experte für den Drogenkrieg in der mexikanischen Grenzstadt Ciudad Juárez: Jahrelang hatte er Tod und Gewalt für die Tageszeitung Diario de Juárez dokumentiert – im November 2008 wurde der Reporter selbst erschossen, vor den Augen seiner 8-jährigen Tochter, die er gerade zur Schule fahren wollte. “Seit mehr als vier Jahren ist dieses Verbrechen straflos geblieben”, sagt Pedro Torres, ein Freund und Kollege von Rodríguez beim Diario de Juárez. Die Ermittlungsbehörden hätten immer neue, widersprüchliche Tatmotive und Verdächtige präsentiert. “Und Personen wie wir, die ihm nahe standen, wurden nie von der Polizei befragt.”

Karte der Gewalt: Aggressionen gegenüber Journalisten in Mexiko
Karte der Gewalt: Aggressionen gegenüber Journalisten in Mexiko

Das Schicksal von Armando Rodríguez ist eines von vielen, das sich hinter den Zahlen verbirgt, die die Situation von Journalisten in Mexiko beziffern. Mehr als 70 Journalisten sind seit dem Jahr 2000 getötet worden. Allein für 2012 führt die mexikanische Menschenrechtsorganisation Article 19 im am Mittwoch veröffentlichten Jahresbericht “Doppelmord: Die Presse zwischen Gewalt und Straflosigkeit” 207 Aggressionen gegenüber Medienvertretern auf. Mord und Morddrohungen, Entführungen, Attacken auf Reporter und Redaktionen: Mexiko bleibt für Journalisten eines der gefährlichsten Länder weltweit.

Bei der Pressekonferenz im Museum für Erinnerung und Toleranz in Mexiko-Stadt kritisierten Article 19-Vertreter und Journalisten, dass Journalisten zunehmender Gewalt ausgesetzt sind und der Staat bei Schutz und Strafverfolgung versagt, Beweisaufnahme und Prozesse verschleppt oder verfälscht werden, im vergangenen Jahr in vielen Fällen staatliche Kräfte wie Polizei oder Militär für Angriffe verantwortlich waren.

2012: Sieben Morde an Journalisten
Sieben Journalisten wurden dem Jahresbericht zufolge 2012 im Zusammenhang mit ihrer Arbeit ermordet, fünf der Morde ereigneten sich im Bundesstaat Veracruz, jeweils ein Journalist wurde in Sonora und Puebla getötet. Regina Martínez Pérez, Veracruz-Reporterin für das Politikmagazin Proceso, wurde etwa am 28. April 2012 in ihrem Haus in der Bundeshauptstadt Xalapa misshandelt und erwürgt aufgefunden – sie hatte Kartellkriminalität und die Verbindungen zwischen Kartellen und Politik sowie Sicherheitskräften recherchiert, die Mörder entwendeten auch ihr Mobiltelefon und ihren Computer.

Zwei Journalisten verschwanden zudem, neben Adela Jazmín Alcaraz López (Canal 12 de Rio Verde, Bundesstaat San Luis Potosi) auch der Reporter und Fotograf Miguel Morales Estrada, der ebenfalls im Bundesstaat Veracruz gearbeitet hatte.

Neue Kanäle: Schießereien und Morde twittern
Von den acht gezählten Attacken auf Redaktionen fanden im vergangenen Jahr fünf im Bundesstaat Tamaulipas statt, die übrigen drei in Nuevo León. “Was überrascht ist die konzertierte Organisation der Angriffe”, sagt der Journalist Guillermo Osorno. “An einem einzigen Tag fanden drei Vorfälle statt.” Am 10. Juli 2012 beschossen bewaffnete Kommandos die Büros zweier Publikationen der Zeitung El Norte im Großraum Monterrey, Nuevo León, sowie die Redaktion der Zeitung El Mañana in der Grenzstadt Nuevo Laredo – die von Monterrey 220 Kilometer weit entfernt ist.

Wie andere Medien in Chihuahua, Sinaloa, Coahuila und Guerrero zuvor kündigte El Mañana auf der ersten Seite der Zeitung nach dem Angriff an, in Zukunft nicht mehr über die Konkurrenzkämpfe und Gewalt der rivalisierenden Kartelle zu berichten – “weil die Konditionen fehlen, um unabhängig zu berichten”, so die Zeitung.

Während vor allem lokale Medien zunehmend zur Selbstzensur tendieren, um sich zu schützen, weichen die Mexikaner auf Kanäle im Internet wie Blogs und Twitter aus, um sich gegenseitig über Schießereien, neue Gewalttaten oder Straßenblockaden der Kartelle zu informieren und sich über das Geschehen auszutauschen.

Agressionen von staatlicher Seite

Nicht nur die Kartelle, auch staatliche Vertreter bedrohen die Pressefreiheit, um ihre Interessen durchzusetzen. Von den 207 Agressionen gegenüber Medienvertretern – im Vergleich zu 2011 ein Anstieg um 20 Prozent – entfielen im vergangenen Jahr fast 44 Prozent auf Repräsentanten der öffentlichen Ordnung auf nationaler, bundesstaatlicher und Gemeindeebene.

Zu den Aggressionen zählt Article 19 Materialschäden und Verletzungen (98 Fälle), Einschüchterungen und Drohungen, Diffamierungen, illegale Festnahmen, die Morde und Entführungen, aber auch Cyberangriffe. Ein Teil der Gewaltvorfälle im vergangenen Jahr dürfte auf die Berichterstattung über die Proteste gegen den neuen Präsidenten Enrique Peña Nieto (PRI) und die Zusammenstösse zwischen Protestierenden und Sicherheitskräften entfallen, in deren Vorlauf auch Journalisten und Fotografen an der Arbeit gehindert, verletzt oder vorübergehend festgenommen wurden.

Gefährliche Straflosigkeit
“Das, was fast alle Fälle gemeinsam haben, ist die Straflosigkeit”, kritisiert Luis Ortiz von der Menschenrechtsorganisation Change.org. “Und Straflosigkeit tötet.” Die Maßnahmen des Staates für den Schutz bedrohter Journalisten oder die Verfolgung von Verbrechen seien “wenig effektiv”. Dem Article 19-Jahresbericht 2012 zufolge ist die Erfolglosigkeit bei der Strafverfolgung häufig auch auf Kompetenzstreitigkeiten der verschiedenen Behörden zurückzuführen.

In Mexiko wurde 2006 zwar eine Überwachungsstelle gegründet, die Aggressionen gegen die Meinungsfreiheit untersuchen und Ermittungen analysieren und überwachen soll, doch die Erfolge der sogenannten Fiscalía Especial para la Atención de Delitos Cometidos Contra la Libertad de Expresión (FEADLE) waren “überschaubar oder gleich null”, bilanziert der Jahresbericht.

Karla Iberia Sanchez von der nationalen Menschenrechtskommission kritisiert, dass viele Zahlen inkonsistent seien und auch Verbesserungsvorschläge nicht umgesetzt wurden. “Zwischen 2006 und 2012 gab es in 86 Prozent der Fälle überhaupt keine Lösung”, sagt sie. Es würden auch personelle und finanzielle Ressourcen fehlen. Die Menschenrechtsorganisation Change.org sammelt aktuell Stimmen für eine Petition, die von Mexikos Präsidenten Enrique Peña Nieto eine entsprechende Unterstützung fordert. Die Straflosigkeit sende eine falsche Botschaft: Dass es sich lohne, Journalisten zu töten, weil es keine Konsequenzen gibt.

Die Journalisten versuchen sich im Alltag mit kleinen Maßnahmen zu schützen: Sie lassen sich Gewaltvorfälle zweimal bestätigen, bevor sie an den Tatort fahren, versuchen zu zweit zu recherchieren, und immer jemand Bescheid zu geben, wo sie sind. Bei vielen Zeitungen, wie auch beim Diario de Juárez, werden Berichte über Gewalt nur noch mit “Redaktion” unterschrieben – Angst haben die Redakteure trotzdem, dass ihre Namen oder die Namen von Zuträgern an die Sicarios, die Killer der Kartelle, durchsickern.

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