Ganze neun Tage mussten wir ohne auskommen. Eigentlich unvorstellbar. Ein ganzes Stadtviertel in Stockholm ist vom Internet abgeschnitten – und das im internetaffinsten Land der EU in dem über 85 Prozent aller Menschen täglich online sind. Mich eingeschlossen.
Am ersten Abend wirkt es noch wie eine kurze Auszeit, eine kleine technische Panne eben. Ein paar Stunden ohne Internet? Kein Problem. Doch als wir am nächsten Tag erfahren, dass die Internetverbindung für eine paar Tage abgeschnitten bleibt, werden die ersten meiner Mitbewohner_innen unruhig.
Ich wohne in einem Studentenwohnheim in Birkastan, einem Kiez im Stockholmer Stadtteil Vasastaden. Über 500 andere Student_innen wohnen mit mir hier und sie alle hatten eine hervorragende Internetverbindung – bis vor gut einer Woche ein Brand in einer der nahegelegenen U-Bahn Stationen die Internetkabel stark beschädigte. Seitdem war die Internetverbindung futsch.
Das Internet mag mal ausfallen. Doch das Absurde an diesem Fall ist nicht nur die Dauer der Panne, sondern vor allem ihr Ort: Schweden ist das Land der EU, in dem die meisten Internetnutzer_innen leben. Und in der Hauptstadt Stockholm schlägt das Herz dieser Medienaffinität – hier sitzen die meisten Start-Ups und Internetunternehmen. Hier wirkt ein Internetausfall wie eine existenzielle Krise. Es scheint als wird den Stockholmer_innen die Luft zum digitalen Atmen genommen.
Und was machen über 500 Student_innen, wenn es plötzlich keine Internetverbindung mehr gibt? Sie versuchen – so gut es geht – die Zeit rumzubekommen. Und auf einmal scheint es so, als ob wir alle unfreiwillig an einem Experiment teilnehmen. Freizeit ohne Internet? Wie geht das nochmal? Plötzlich suchen alle in meinem Wohnheim händeringend nach einer Beschäftigung.
Eine bulgarische Studentin kann der unfreiwilligen Internet-Abstinenz etwas Positives abgewinnen: „Es ist witzig, aber ohne das Internet kann man hier im Studentenwohnheim plötzlich ganz interessante Dinge beobachten. Die Menschen lassen auf einmal ihre Türen auf oder kommen zu anderen ins Zimmer. Es entwickeln sich spontan viel mehr Gespräche. Alles sind auf einmal viel sozialer.“ Dass es auch ohne Internet geht, zeigt ein Fitnessraum im Keller des Gebäudes: Der Raum, der sonst nur von wenigen genutzt wird, ist auf einmal proppenvoll.
Ein paar Tage später kippt die Stimmung jedoch. Alle werden unruhig, ein Ende der Internetunterbrechung ist laut des zuständigen Unternehmens nicht absehbar. Auch die bulgarische Studentin ist nur noch verzweifelt und genervt. „Mittlerweile geht es nicht mehr um Spaß oder Vergnügen, die Situation ist ernst. Ich muss bis nächste Woche ein wichtiges Essay schreiben und wollte die nächsten Tage nutzen um dafür zu arbeiten. Doch dafür brauche ich das Internet.“. Sie könnte sich zur nahegelegenen Uni flüchten um das WLAN auf dem Campus zu nutzen. Doch in der Uni konzentriert arbeiten – das könne sie nicht.
Umso glücklicher ist sie, als die Internetverbindung am späten Donnerstagabend plötzlich zurückkehrt. Mit einem strahlenden Lächeln fällt sie mir überschwänglich um die Arme. „Wir haben wieder Internet, endlich!“ ruft sie überglücklich. Auf facebook macht sich prompt ein Sturm der Begeisterung breit. Und ein Blick aus meinem Fenster zeigt mir an diesem Abend: Alle sitzen in ihren hell erleuchteten Zimmern und starren gebannt auf ihre Laptops. Das Internet hat uns wieder – und der kurze Ausflug in die analoge Vergangenheit ist vorbei. Die Flurbegegnungen sind erstmal passé und alle verziehen sich wieder in ihre Räume. Schade eigentlich – mir hat das Leben in der „internetfreien Zone“ auch sehr gut gefallen.
Fotos: Graphik aus dem Artikel „Der gläserne Mensch“, FAZ, 9. Juni 2013 // Graphik aus dem schwedischen Wikipedia-Artikel „Vasastan, Stockholm“ // Screenshot Facebook 3. Oktober 2013