Trendblogger-Jahrgang 2013/2014 Hej! Schweden – das Land im Norden Europas weckt viele Assoziationen. Doch das skandinavische Königreich hat neben Elchen, Pippi Langstrumpf und IKEA noch viel mehr zu bieten. Als Erasmus-Studentin studiere ich für zwei Semester in der Hauptstadt Stockholm Politikwissenschaft. Stockholm ist das Epizentrum dieses vor Innovationen strotzenden Landes. Hier schlägt nicht nur das politische und kulturelle Herz Schwedens – auch die neuesten Medieninnovationen nehmen von hier aus ihren Weg in die Welt. Kein Wunder: In Stockholm herrscht eine sehr hohe Dichte an jungen Start-Ups und Internetunternehmen. Als Trendbloggerin werde ich in den nächsten 10 Monaten die neuesten Medientrends aufspüren und sie mit euch teilen. Ich freue mich sehr über all eure Reaktionen, Meinungen, Kommentare, Fragen und Anregungen!


„Ich poste unsere Events gezielt in Gruppen, in denen sich User für Sexdates verabreden“

Vor ein paar Tagen eröffnete „Side by Side“ – das einzige queere Filmfestival in Russland. Die sechste Ausgabe des jungen Festivals in St.-Petersburg wird in diesem Jahr von dem neuen Gesetz gegen „homosexuelle Propaganda“, Bombendrohungen und Gegendemonstrationen überschattet. Wegen einer falschen Bombendrohung bei der Eröffnungsveranstaltung, die eine einstündige Evakuierung mit sich zog, verlor das Festival einen wichtigen Veranstaltungsort. Ein herber Rückschlag für die Organisator_innen. Tanya Shmankevich ist eine von ihnen: Sie ist eine junge LGBT-Aktivistin, die seit Beginn des Festivals als Freiwillige aktiv ist. Seit 2010 gehört sie offiziell zum Festival-Team und arbeitet neben ihrem Studium in Vollzeit an der Organisation des Events mit. Im Interview erzählt sie vom LGBT-Netzaktivismus in Russland, vom Umgang mit Gewaltandrohungen und von den Vor- und Nachteilen von Sozialen Netzwerken und Neuen Medien für die russische LGBT-Community.

Kleineres Foto Tanya

Foto: Aleksander Meltser

Trendblogger: Tanya, ihr als Festival-Team organisiert mit „Side by Side“ das bisher einzige queere Filmfestival in Russland. Gibt es ähnliche Veranstaltungen bei denen sich Queers aus St. Petersburg austauschen können?

Tanya Shmankevich: Ja, die gibt es. Ich denke da an das Queer Festival unserer Partnerorganisation „Coming Out“. Sie bieten eine große Bandbreite an Programmen an. Darunter Psychologische Beratung, Seminare für Journalist_innen und Lehrer_innen – von Diskussionen, über Filmvorführungen und Fotoausstellungen wird über zehn Tage wirklich viel geboten. Natürlich hatten sie auch ähnliche Probleme wie wir, Veranstaltungsräume zu organisieren. Es war sehr schwer etwas in der Innenstadt zu finden und so mussten sie auf einen Ort weit außerhalb ausweichen.

Trendblogger: Die russische LGBT-Szene scheint stark auf St. Petersburg konzentriert zu sein. Aber ihr seid auch in anderen Regionen aktiv, oder?

Tanya Shmankevich: Ja, in Moskau zum Beispiel hat sich unser Festival wirklich zu einem Erfolg entwickelt. Ähnlich wie hier in St. Petersburg gibt es das Problem, dass Kinos oder andere Gastgeber von anonymen Anrufern eingeschüchtert werden. Aber wir haben Veranstalter_innen gefunden, die sogar darauf bestehen, dass unser Festival nur in ihren Räumlichkeiten stattfindet. Natürlich müssen wir fair sein und auch andere zum Zug kommen lassen (lacht). Wenn Aktivist_innen aus Moskau kommen, meinen sie immer, dass die LGBT-Szene hier wie eine große Familie ist. In Moskau konzentrieren sich die Aktivitäten stärker auf Demonstrationen. Unsere Strategie als Filmfestival ist eine andere. Aber Demonstrationen und Prides haben genauso ihre Berechtigung. Uns geht es nicht nur um das kulturelle Ereignis: wir sind vorrangig ein soziales Event.

Trendblogger: Welche Rolle spielen das Internet und Soziale Medien für eure Arbeit?

Tanya Shmankevich: Wir sind auf allen in Russland bekannten Internetplattformen vertreten. Livejournal, Twitter, Flicker, Facebook, aber am wichtigsten sind für uns Kontakte. Mit Hilfe unserer Fragebögen erkennen wir, dass viele unserer Besucher_innen über soziale Netzwerke zu uns kommen. Aber wir richten uns in unseren Kampagnen vor Festivalbeginn auch an klassische Medienformate. Leider gibt es nicht viele größere Zeitungen, die über uns schreiben. Für mich ist das wirklich eine Art Zensur. Es sind die Auswirkungen des neuen Gesetzes gegen ‚homosexuelle Propaganda‘. Keiner versteht wirklich, was das Gesetz meint mit ‚Propaganda‘. Und die meisten Zeitungen interpretieren dies so, dass sie Homosexualität nicht einmal erwähnen wollen. Es gibt aber auch mutige Medien, wie zum Beispiel den Lokalsender STO TV, die über uns berichten.

Trendblogger: An den Sozialen Medien wird oft ein „clicktivism“ kritisiert, also ein politischer Netzaktivismus, der ohne reale Folgen bleibt: ein „like“ ist schnell gesetzt, einer Gruppe im Internet beizutreten ist einfach. Euer Festival lebt aber davon, dass möglichst viele persönlich erscheinen.

Tanya Shmankevich: Im letzten Jahr hatten wir in zehn Festivaltagen über 3000 Besucher_innen und bei vkontakte.com haben wir um die 5000 follower. Es scheint also, dass die meisten uns nicht nur im Internet folgen, sondern tatsächlich auch bei unseren Veranstaltungen anwesend sind. Das gilt auch für St. Petersburg. Wenn wir in den Regionen ein Festival veranstalten, ist es für viele auch ein Problem uns im Internet zu folgen, weil das Profilbild dann mit der Veranstaltung in Verbindung gebracht wird. In kleineren Orten kann man sich vor homophoben Reaktionen dann schlechter zurückziehen.

Trendblogger Side by Side Poster

„Bok o Bok“ – so heißt das einzige queere Filmfestival in Russland. Aus dem Russischen übersetzt bedeutet es so viel wie „Seite an Seite“.

Trendblogger: Sich im öffentlichen Raum zu seiner sexuellen Orientierung zu bekennen kostet Überwindung. Seht ihr stattdessen den Trend, dass sich LGBT verstärkt ins Internet zurückziehen?

Tanya Shmankevich: Leider gibt es eine große Anzahl an LGBT, die sich überhaupt nicht in diesen sozialen Belangen engagieren. Sie können in ein paar speziellen Gaybars und Klubs feiern. Viele sehen die Probleme nicht und meinen sogar, dass LGBT-Aktivist_innen ihr Leben noch erschweren. Wir versuchen diese Menschen zu erreichen. Zum Beispiel poste ich unsere Events gezielt in Gruppen auf vkontakte, wo sich User für One-Night Stands und Sexdates verabreden. Ich halte das für sehr wichtig, diesen Menschen zu zeigen, dass sie auch offen leben können und wirkliche Beziehungen führen können. 

Trendblogger: Fürchtet ihr für eure Aktivitäten im Internet staatliche Repressionen? Müsst ihr eure Inhalte an das Gesetz zum Verbot „homosexueller Propaganda“ anpassen?

Tanya Shmankevich: Nicht wirklich. Wir achten aber darauf, dass wir alle Inhalte mit dem Hinweis „18 +“ versehen. Schließlich wurde das Gesetz mit dem Schutz von Minderjährigen begründet. Es scheint sich aber niemand mehr daran zu erinnern und stattdessen wird gemeint, dass „Propaganda von Homosexualität“ illegal sei. Ohne, dass irgendjemand wirklich weiß, was damit gemeint sei. Das ist einfach lächerlich. In früheren Jahren hatten wir auch durch Plakate auf uns aufmerksam machen können. Seit dieser neuen Gesetzgebung verzichten wir aber darauf. Aber bisher haben wir keine Hinweise darauf, dass unsere Inhalte im Internet ein Problem darstellen. Wir bereiten uns aber darauf vor.

Trendblogger: Für die Filmvorführung heute hat sich auf sozialen Netzwerken eine Gruppe gebildet, die euer Festival durch eine Demonstration stören möchte. Seht ihr hier nicht auch eine Gefahr in den Neuen Medien?

Tanya Shmankevich: Na klar. Aber wir stehen zu unserem Leitsatz, dass wir offen sein wollen. Wir wollen uns nicht verstecken. Auch wenn viele Leute sehen können, was wir posten und auf unserer Seite Drohungen verbreitet werden, ist das kein Grund sich zurückzuziehen. Und auf der anderen Seite ist es für uns auch sehr wertvoll zu wissen, wer unsere Gegner_innen sind. Durch ihre Profile im Internet können wir sie besser einschätzen.

Trendblogger: Durch diese Offenheit im Internet erreicht ihr sicherlich auch andere Zielgruppen als nur eine feste Community. Glaubt ihr es gibt viele Heterosexuelle, die aus Neugier zu den Vorführungen kommen?

Tanya Shmankevich: Auf jeden Fall. Wir schätzen, dass inzwischen dreißig Prozent der Besucher_innen mit dieser Motivation zu uns kommen. Wir hatten Besucher_innen, die uns nach der Vorführung gesagt haben, dass ihre Ansichten sich grundlegend verändert haben. Andere kommen aus Interesse, weil sie Filme wie diese sonst nicht im Kino zu sehen bekommen. Und das ist ein wichtiger Aspekt unseres Festivals. Wir wollen einen alternativen Blick auf LGBT ermöglichen. Wenige Tage vor unserem Festivalbeginn musste ich auf einem der öffentlichen Fernsehsender sehen, wie über eine Demonstration unserer Partnerorganisation berichtet wurde. Ich komme selbst aus einem kleinen Ort in Sibirien. Ich weiß, dass die Leute auf dem Land meist nur ein paar der öffentlichen Fernsehsender anschauen. Ich kann mir gut vorstellen, was in den Köpfen von Menschen vor sich geht, die ihre Eindrücke von LGBT nur über diese Kanäle erhalten.

Trendblogger: Als eure Filmvorführung gestern durch einen Drohanruf unterbrochen wurde hatten wir den Eindruck, dass viele der Besucher_innen bereits eine eingeschworene Gemeinschaft sind. Welchen Wert hat es für euch als community aufzutreten angesichts der momentanen Situation?

Tanya Shmankevich: Wir haben sehr viele Freiwillige, die sich gerne für unser Festival einsetzen. Und wir machen mit ihnen ein ganzjähriges Programm. Es ist für sie einfacher, als sich einer Demonstration anzuschließen. Der Gemeinschaftscharakter ist sehr wichtig. Wir kriegen auch immer wieder Rückmeldungen, dass es die herzliche, offene Atmosphäre ist, die Besucher_innen bei uns genießen. Es ist wunderbar zu hören, dass „Side by Side“ ihr Leben verändert hat. Viele haben hier Freund_innen und Partner_innen gefunden. Die vorgetäuschten Anschläge sind momentan unser größtes Problem. Dadurch wird die Zahl der Besucher_innen drastisch verringert. Viele fühlen sich eingeschüchtert. Bisher ist aber bei keinem unserer Festivals etwas Derartiges vorgefallen. Wir unternehmen alle notwendigen Vorkehrungen, um Gewalt zu verhindern. Aber trotzdem fürchten sich viele davor zum Festival zu kommen. Es kann schließlich niemand verlangen, dass du zum Aktivist_innen wirst. Vielleicht möchtest du einfach nur mit deinem Freund oder deiner Freundin einen Film sehen. Wir können nicht erwarten, dass alle auf die Straße gehen. Es wäre toll, wenn die Leute massenhaft gegen Homophobie demonstrieren würden, aber momentan sehe ich noch nicht, dass diese Zeit gekommen ist.

 Das Interview führten Arthur Molt und Aleksander Meltser. 

Das Interview wurde aus dem Englischen übersetzt.

Tanya Shmankevich – zur Person:

Nach einem längeren Auslandsaufenthalt in Deutschland arbeitete Tanya Shmankevich zunächst für das Büro für Deutsch-Russischen Austausch als Koordinatorin. Hier lernte sie die späte Direktorin des „Side by Side“ Filmfestivals in St.-Petersburg, Gulya Sultanowa, kennen. Durch den Kontakt zu ihr und den anderen Aktivist_innen erfuhr sie von der schwierigen Situation von LGBT und von dem schweren Einschnitt, den ein Coming Out für viele ihrer Freund_innen bedeutet hatte. Tanya entschied sich, dass sie diese gesellschaftlichen Zustände nicht akzeptieren könne. Die Frage, warum sie sich denn als heterosexuelle Frau so sehr für das „Side by Side“- Festival und die Rechte von LGBT einsetze, würde sie im Laufe der Jahre häufiger hören. Doch für Tanya macht dies keinen Unterschied. Denn eigentlich möchte sie genau das erreichen: Das den Menschen bewusst wird, dass jeder und jede sich für jeden und jede andere einsetzen könne.

Fotos: Aleksander Meltser, http://www.bok-o-bok.ru/

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7 KOMMENTARE , GEBE EINEN KOMMENTAR AB

  1. Ich bin immer noch beeindruckt von dem Treffen mit Tanya. Wie sie in diesem Café, genau in dem Gebäude in dem vor kurzem erst ihre Eröffnungsveranstaltung gestört wurde über ihre Arbeit gesprochen hat. Von Einschüchetrungsversuchen lässt sie sich nicht beeindrucken. Und ich muss ihr recht geben, bisher haben die Veranstalter vorbildlich für Sicherheit gesorgt und diese Anrufe zeugen nicht gerade von Einfallsreichtum. Wenn die Zuschauer wegen dieser Falschmeldungen zuhause bleiben, war die Sabotage erfolgreich. Und mit Tanyas Worten: „genau darauf haben es diese Nazis doch abgesehen!“ — noch ein Tipp: verfolgt die ereignisse bei der saint petersburg times online (engl.) oder bei http://www.bok-o-bok.ru; Und kommt nächstes Jahr nach St. Petersburg!

  2. Vielen Dank für deine detailierten Eindrücke Arthur – und natürlich das Interview! Ích kann zwar momentan leider nicht in St.-Petersburg mit euch sein, aber mir ging es ähnlich, als ich Tanya im September hier in Stockholm getroffen habe. Ich war tief beeindruckt von ihrer Entschlossenheit und ihrer unbändigen Energie, sich für die LGBT-community in St.-Petersburg bzw. Russland einzusetzen. Und das gegen alle möglichen Widerstände. Ich wünsche euch ein paar spannende letzte Tage und einen guten Festivalabschluss!

  3. Vielen Dank für deine detailierten Eindrücke Arthur – und natürlich das Interview! Ích kann zwar momentan leider nicht in St.-Petersburg mit euch sein, aber mir ging es ähnlich, als ich Tanya im September hier in Stockholm getroffen habe. Ich war tief beeindruckt von ihrer Entschlossenheit und ihrer unbändigen Energie, sich für die LGBT-community in St.-Petersburg bzw. Russland einzusetzen. Und das gegen alle möglichen Widerstände. Ich wünsche euch ein paar spannende letzte Tage und einen guten Festivalabschluss!

  4. Vielen Dank für deine detailierten Eindrücke Arthur – und natürlich das Interview! Ích kann zwar momentan leider nicht in St.-Petersburg mit euch sein, aber mir ging es ähnlich, als ich Tanya im September hier in Stockholm getroffen habe. Ich war tief beeindruckt von ihrer Entschlossenheit und ihrer unbändigen Energie, sich für die LGBT-community in St.-Petersburg bzw. Russland einzusetzen. Und das gegen alle möglichen Widerstände. Ich wünsche euch ein paar spannende letzte Tage und einen guten Festivalabschluss!

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  7. Ein sehr aufschlußreicher Artikel über die Arbeit von NGOs in Zeiten der Repression.