Linköping,
Trendblogger-Jahrgang 2013/2014 Modeblogs mit Instagramfotos von Vintage-Läden und Zimtschnecken, gepaart mit einem Hauch Feminismus: Mit diesem Eindruck von Schweden begebe ich mich für ein Semester nach Linköping. Nicht nur Land und Leute, sondern auch User und Medien werde ich dort beobachten und für euch beschreiben. Ob die Leute da wirklich so schön sind, wie das Internet wirken lässt, ob wirklich alles sofort mit dem Smartphone fotografiert wird, ob Schweden wirklich das europäische Musterland schlechthin ist? Mythen hin oder her, ich werde es austesten.


App the pain away

Angstzustände, Sozialphobie und Panik lähmen Betroffene in ihrem Handlungsspielraum und erschweren ihren Alltag. In Stockholm wird momentan eine App entwickelt, die dem entgegenwirken soll. Kann eine herkömmliche Therapie digital ersetzt werden?

Persönliche Grenzerfahrungen herausfordern um Ängste zu mildern: Wie viel psychische Belastung kommt dabei auf Betroffene zu? (Bild: porschelinn/flickr)

Persönliche Grenzerfahrungen herausfordern um Ängste zu mildern: Wie viel psychische Belastung kommt dabei auf Betroffene zu? (Bild: porschelinn/flickr)

Für alles gibt es Apps: Digitale Kochbücher, mobile Schlaflabore, kaltherzige Fitnesstrainer oder peinliche Partyspiele sind nicht nur eine Datei auf dem Smartphone, sondern helfen sie im Wahren Leben™ aus. Dabei handelt es sich in diesen Fällen um Luxusartikel. Keine_r braucht sie wirklich, sie existieren nun mal und peppen den Alltag an einigen Stellen auf.

An der Stockholmer Universität allerdings entwickelte der Psychologieprofessor Per Carlbring und seine wissenschaftliche Hilfskraft Arvid Marklund eine App, die Sozialphobie und Panikattacken therapeutisch behandeln soll. Betroffene werden aus ihrer Comfort Zone herausgelockt und müssen sich Herausforderungen stellen, die ihre Ängste mindern sollen.

Durch die Ausstattung mit GPS erkennt die App zum Beispiel, dass sich die betroffene Person gerade in der Nähe eines Kiosks aufhält. Über Push-Benachrichtigungen wird sie gefragt, ob sie Lust auf eine Herausforderung hat.
Die Aufgabe kann es sein, dass die Person im Geschäft einen Schokoriegel kaufen soll und um eine Quittung beten soll. Kurze Zeit später wird sie vielleicht dazu aufgefordert, zurück in den Laden zu gehen und den Artikel umzutauschen.

Von alltäglichen Situationen geht es bis hin zu Konventionsbrüchen. Zum Beispiel sollen User_innen den Schokoriegel aufessen und ihn anschließend reklamieren. Sie könnten dem Verkaufspersonal sagen, dass er nicht gut schmeckte und sie deshalb gern ihr Geld zurückhätten. Sie könnten sagen, dass die Lagerung vielleicht schlecht war und diese überdacht werden müsse.

Anschließend können die User_innen die erlebten Situationen reflektieren und niedertippen. Auf Wunsch lesen andere Nutzer_innen aus dem Portal den Erfahrungsbericht und geben sich gegenseitig Feedback. So soll ein Gemeinschaftsgefühl aufgebaut und ein gegenseitiges Empowerment stattfinden. Der Effekt ist ähnlich wie bei Foren und Facebookgruppen für Menschen mit Sozialphobie und Panikattacken. Der Austausch mit anderen Betroffenen kommt einer Selbsthilfegruppe nahe – der Unterschied ist, dass keine physische Anwesenheit nötig ist und Anonymität bewahrt werden kann. Barrieren, die sich in den Alltag von Menschen mit Sozialphobie stellen, könnten so aufgeweicht werden.
Zusätzlich werden Nutzer_innen dazu ermuntert, sich für die Durchführung der Herausforderungen zu belohnen, zum Beispiel mit Gebäck oder einer Zeitschrift.

Um den Nutzer_innen differenziert und zielsicher helfen zu können, müssen sie vorher zur Einstufung Fragen beantworten. Sie können zum Beispiel angeben, an welchen Orten sie sich sicher oder unwohl fühlen. Die Herausforderungen werden als therapeutisches Training angesehen, welche langfristig das Selbstbewusstsein der Nutzer_innen stärken sollen.

Zur Zeit wird die App noch getestet, nach einigen Wochen soll sie verbessert werden und kommt dann auf den Markt. Ein Name steht noch nicht fest, auch ist noch ungewiss, ob und wie viel sie kosten wird. Derweil gibt es auch schon ähnliche Apps wie SAM, die der Selbsthilfe für Anxiety Management dient.

Was meint ihr: Können gewisse psychologische Therapien mit Hilfe von Apps und dahinterstehenden Communities ersetzt werden?

Folge der Autorin @sassyheng auf Twitter. 

10 KOMMENTARE , GEBE EINEN KOMMENTAR AB

  1. Nein, ich glaube überhaupt nicht dass eine App die Psychotherapie ersetzen kann. Der Kontakt zu Leidensgenossen mag ja erstmal positiv erscheinen aber ich bin der Meinung, dass ein realer Kontakt viel wichtiger ist. Durch Online-Kontakte lässt sich Einsamkeit vielleicht kurzfristig besser ertragen, aber ich denke, gerade psychisch labile Menschen benötigen echte und gute soziale Kontakte, also Menschen, die sie regelmäßig sehen und die real für sie da sind. Im Internet sind viele genauso schnell wieder verschwunden wie man sie kennengelernt hat. Auf die Kontakte dort ist also kein Verlass. Zudem denke ich, dass eine Therapie wirklich sehr individuell auf jeden einzelnen Patienten zugeschnitten werden muss, was ja bei den begrenzten Möglichkeiten der App kaum der Fall sein kann. Dazu kommt, dass der Therapieerfolg in erheblichem Maße von der Beziehung zwischen Therapeut und Patient abhängt. Echtes Vertrauen und gute Gespräche wird eine App niemals erreichen.

    • Ich stimme dir da zu, denke aber andererseits auch an all die Therapeut_innen, die nicht genug Empathie für Patient_innen aufbringen, die z.B. nicht normativ leben. Ich denke speziell an die Erfahrungen, die ich von Queers und Trans*gender-Personen gehört habe, deren Ängste auf ihre (nicht binäre) Geschlechtsidentität oder auf ihr Begehren geschoben wird. Das führte dann dazu, dass die Patient_innen (verständlicherweise) ihren Therapeut_innen nicht alles erzählen konnten, weil sie keine Lust auf diese Pathologisierung hatten. In diesen und ähnlichen Fällen kann eine anonyme Community – wenn sie denn verlässlich wäre – eine höhere Bandbreite an Erfahrungen bieten, denke ich.

  2. Okay. Eine App, die soziale Ängste lösen und nach und nach therapieren soll. Netter Ansatz, denn zugegeben ist mein Smartphone neben meinem Wohnungsschlüssel definitiv der Gegenstand, der mich am ehesten 24/7 begleitet. Damit ist es auch der Gegenstand und das Medium, das mich am ehesten erreicht.
    Ich hole kurz aus. Meine Ängste sind nicht im sozialen Bereich. Zumindest liegen sie nur ab und zu dort. Meine größte Angst, die mich mein Leben am weitesten begleitet hat, ist die Arachnophobie. Schon vor mehr als 10 Jahren gab es im Fernsehen Sendungen, die zeigten, wie Menschen ihre Angst (in diesem Fall vor Spinnen) therapieren ließen. Erst das Bild dieses Tieres. Dann eine im gleichen Raum. Dann immer näher an das Tier ran. Und final: Eine Spinne auf dem eigenen Körper krabbeln lassen. Und spätestens hier stellt sich mir die Frage nach dem Nutzen und danach, ob Menschen, die diese Therapie gestalten überhaupt verstanden haben, was Menschen wie ich, die an dieser Angst leiden, sich als Ziel wünschen. Verdammt nochmal, ich will keine widerliche Spinne auf meiner Hand krabbeln lassen! NIEMAND möchte das, wenn er/sie nicht gerade diese Tiere bei sich zu Hause hält. NIEMAND. Mein Wunsch an eine Therapie wäre es, dass es mir gelingt im gleichen Raum wie das (eben entdeckte) Tier zu sein, OHNE zu schreien, OHNE panisch zu reagieren und wegzulaufen, OHNE den Wunsch zu haben, diesen Raum nie wieder betreten zu wollen. Ich möchte am Ende nur die Kraft und Fähigkeit besitzen, dieses Tier zu entsorgen, zu töten, wenn es denn wirklich sein muss, oder in irgendeiner Art und Weise mit der Situation _allein_ klar kommen zu können. Mehr will ich nicht.
    Zurück zu sozialen Ängsten und der App. Wenn ich mich meiner Angst stellen möchte, ohne meine Bekannten oder die Familie mit einzubeziehen, wenn ich die einzige sein möchte, die sich dem stellen will und selbst entscheiden möchte, wann ich bereit bin einen Schritt in soziale Situationen zu wagen, ist diese App ein guter Start und eine gute Hilfe. Sie sollte viele kleine Aufgaben beinhalten. Dinge wie „Zieh dir eine Jacke an und stell dich 2 Minuten vor die Haustüre“, „Geh einmal um den Block“, „Fahr eine Station mit der U-Bahn/dem Bus und lauf zurück“, „Geh in den Drogeriemarkt, schau dir 5 Minuten das Sortiment an und geh wieder heraus“. Das sind Dinge, die ohne Angst zu haben bestanden werden wollen. Das sind Dinge, die helfen, die gebraucht werden. Dinge wie Smalltalk über das Wetter. Nicht frech einen gegessenen Schokoriegel zu reklamieren. Denn das ist etwas, was sowieso nicht zu Erfolg führen kann. Das sind Dinge, die sowieso nur sehr, sehr wenige Menschen tun. In meiner Erfahrung nur Menschen, die es auf Stress anlegen und sich letztenendes auch damit nur unbeliebt machen. Ein Ziel ist vielmehr, sich in einem Café an die Straße setzen zu können und mit Bekannten ein Gespräch führen zu können. Oder allein dort zu sitzen. Oder in der Bahn nach einem Platz zu fragen. DIESE Dinge sind hilfreich. Schokoriegel reklamieren nicht.

    • Das sehe ich auch so. Es wird zu großschrittig gedacht. Andererseits kenne ich mich mit Psychologie nicht gut genug aus, um mit Sicherheit sagen zu können, dass diese Konventionsbrüche kein befreiendes Gefühl veranlassen können und die Grenzen verschieben.
      Aber seien wir ehrlich: Vermutlich wird die Person einen garstigen Kommentar vom Personal zu hören bekommen und im Anschluss noch viel ängstlicher sein, Kritik zu äußern.

    • Ich war am Anfang sehr kritisch, als ich davon las, aber je mehr ich darüber nachdenke, desto innovativer finde ich die Idee. Die Verteufelung der Digitalisierung und „Menschenkontakt ist unersetzbar“ halte ich fast schon für ein bisschen überholt.

  3. Tatsächlich finde ich die ganze Sache sehr spannend! Ich hätte nie gedacht, wie viel gute Ideen in der App-Branche stecken. Guter Artikel, wenn der App rauskommt, werde ich ihn an einige Bekannte empfehlen. Und diesen Artikel auch. Wow, ich bin mal wieder beeindruckt von Technologie. Kommt nicht oft vor heutzutage…

  4. aaahhh, der artikel kam genau zur richtigen zeit! super! hatte letztens erst ne diskussion über ein thema, das so ein bisschen in die richtung ging. werd ich sicherlich nochmal weiterreichen :)

    • Das freut mich! Wenn du über diese Diskussion auch mal bloggen solltest, würde ich mich freuen, darüber zu lesen. :)

  5. Hi!
    Ich sitze gerade an einer Hausarbeit über soziale Phobie und hatte mich mit dem Gedankengang daran gemacht, ob und wie sich die wachsende Internet- bzw. Netzwerkgesellschaft bei Sozialphobikern wiederspiegelt. Diese App geht ja auch etwas in die Richtung – zumindest was die Anonymität angeht.
    Ja, diese Cyberfreundschaften sind oft nicht verlässlich, aber es gibt da auch Ausnahmen. U.U. kann es auch dazu führen, dass man sich erst einmal im Netz anfreundet, Gemeinsamkeiten feststellt und es dann tatsächlich zu realer Freundschaft kommt. Ich stelle das mehrfach in meinem Bekanntenkreis fest. Genauso oft (oder öfter) geht das natürlich schief und wird dann als Verlustangst wieder abgespeichert. Ich sehe dennoch auch Positives.
    Was die App angeht: es ist ein Unterschied, ob eine Vertrauensperson mich begleitet und mir hilft meinen ängstlichen Schweinehund zu überwinden und einen Schritt in die Gesellschaft zu tun ( sei es nun der Schokoriegel oder was auch immer) oder ob mich nur mein Smartphone drängelt, das ich wieder in der Tasche verschwinden lassen kann.
    Es ist ein Unterschied, ob ich mir hinterher ein anonymes Lob für eine überstandene Situation abhole oder ob jemand da ist, mit dem ich gleich darüber reden kann, der mich evtl. tröstet oder bestärkt. Oder mich einfach nur anlacht und sich mit mir freut.
    Ich würde diese App-Idee nie gänzlichen verneinen., jeder Mensch ist anders, jede Therapie soll individuell sein, vielleicht gibt es Menschen für die das genau das Richtige ist.

    Gibt es irgendwo authentische Rückmeldungen von Usern? Das würde mich interessieren.
    Und seit wann genau ist die APP auf dem Markt? Kann mir das jemand sagen?

    Liebe Grüße